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29.12.2021 Pflichtteilsrecht Teil 2

Pflichtteilsrecht: Pflichtteilsergänzungsanspruch und Pflichtteilsrestanspruch

Nachdem im ersten Artikel zum Pflichtteilsrecht Grundlagen dieser schwierigen Rechtsmaterie vorgestellt worden sind, geht es im zweiten Beitrag zu diesem Bereich um einige Besonderheiten, und zwar um den Pflichtteilsergänzungsanspruch sowie um den Pflichtteilsrestanspruch (beide ebenfalls mit großer praktischer Bedeutung).

I. Pflichtteilsergänzungsanspruch

a) Prinzip: bei diesem Anspruch werden bestimmte Zuwendungen des Erblassers, also solche vor seinem Tod, bei der Berechnung des Pflichtteils berücksichtigt. Konkret wird so getan, als ob einzelne Zuwendungen, insbesondere Schenkungen, nicht erfolgt wären. Die Werte einzelner Zuwendungen werden daher dem (realen) Nachlass hinzugerechnet und der Pflichtteil anschließend aus dem derart erhöhten (fiktiven) Nachlass errechnet. Der Pflichtteil wird so „ergänzt“, womit sich der Pflichtteilsergänzungsanspruch zum Vorteil des Pflichtteilsberechtigten auswirkt. Anspruchsinhaber ist also eine Person, welche bereits enterbt worden ist bzw. der ein Pflichtteil (aus dem realen Nachlass) schon zusteht. Dies sind, wie im ersten Artikel dargestellt, Personen, die als gesetzliche Erben „zum Zuge gekommen“ wären, wenn ihnen der Erblasser diese Position nicht durch letztwillige Verfügung entzogen hätte.

b) zu berücksichtigende Positionen: dem Nachlass mit pflichtteilserhöhender Wirkung hinzuzurechnen sind beispielsweise:

  • Schenkungen in vollem Umfang (vorbehaltlich zeitlicher Grenzen; dazu weiter unten)
  • Erlass einer Forderung
  • Lebensversicherung auf den Todesfall des Erblassers
  • Schenkung unter Auflage in vollem Umfang ausgleichspflichtig, ohne dass die vom Beschenkten zur Erfüllung der Auflage benötigten Mittel abzugsfähig wären
  • Abfindung bei Erbverzicht, denn der Erbverzicht ist keine Gegenleistung an den Erblasser, durch welche die Abfindung zu einer entgeltlichen (und damit nicht ausgleichspflichtigen) Verfügung würde.

Allen Vorgängen, die dem Nachlass zum Vorteil des Pflichtteilsberechtigten hinzugerechnet werden, gemeinsam ist ihre Unentgeltlichkeit - entgeltliche Geschäfte, bei denen auch dem Erblasser etwas zugewendet wird, bleiben unberücksichtigt. Dementsprechend werden bei gemischten Schenkungen (Gegenleistung des Beschenkten liegt wertmäßig unter der Leistung des Erblassers) nur die unentgeltlichen Teile der Pflichtteilsergänzung unterworfen.

Keine ausgleichspflichtigen Schenkungen sind Anstandsschenkungen als kleinere Zuwendungen zu bestimmten Anlässen (Geburtstag, Weihnachten, Hochzeit), wobei hier allerdings in jeder konkreten Situation unter Berücksichtigung örtlicher Gebräuche und sozialer Sitten gewertet werden muss, was unter „kleiner“ zu verstehen ist. Aus der Pflichtteilsergänzung fallen schließlich auch die sog. Pflichtschenkungen heraus.

c) Berechnung des Pflichtteilsergänzungsanspruchs: diese verläuft in vier Etappen

aa) Feststellung des ordentlichen Pflichtteils als Anteil am realen Nachlass

bb) Hinzurechnung des Gesamtwerts aller Zuwendungen zum Nachlass (fiktiver Nachlass)

cc) Errechnung des Pflichtteils aus dem fiktiven Nachlasswert ergibt

dd) fiktiver Pflichtteil - ordentlicher Pflichtteil = Höhe des Ergänzungsanspruchs.

Falls der Erblasser Schenkungen an den Pflichtteilsberechtigten selbst gemacht hat, werden auch derartige „Eigengeschenke“ berücksichtigt. Jedoch führt dies nur zu einem Abzugsposten und nicht etwa zu einer Leistungspflicht des Pflichtteilsberechtigten. Ist also der Wert eines Geschenks größer als der Anspruch auf Pflichtteilsergänzung, löst dies keine Rückerstattungspflicht des Ergänzungsberechtigten aus - die Pflichtteilsergänzung ist dann einfach Null.

d) Bewertung eines Geschenks: sehr stark vereinfacht kann man sagen, dass die Bewertung entweder den Zeitpunkt der Schenkung oder den des Erbfalls zugrunde legt. Die Zuwendung muss zwecks Auswahl zweimal bewertet werden - für den Zeitpunkt der Zuwendung sowie für den des Erbfalls, denn nach dem Niederstwertprinzip wird dem Nachlass zwecks Pflichtteilsergänzung der geringere Wert von beiden hinzugerechnet. Der Wert zum Schenkungszeitpunkt muss mittels Lebenshaltungskostenindex auf die Kaufkraft zur Zeit des Erbfalls hochgerechnet werden, um eine realistische Vergleichsbasis zu erhalten.

e) Anspruchsgegner: zur Ergänzung des vom Erblasser verkürzten Pflichtteils mittels Zahlung sind dem Pflichtteilsberechtigten die Erben verpflichtet. Nur ausnahmsweise kann ein vom Erblasser Beschenkter herangezogen werden - ist ein Erbe aus rechtlichen Gründen nicht verpflichtet, die Ergänzung herbeizuführen (etwa, weil er durch Zahlung an den Ergänzungsberechtigten wertmäßig selbst unter den Pflichtteil fallen würde), tritt die subsidiäre Haftung des Beschenkten ein. Diese wiederum richtet sich nicht auf Zahlung, sondern auf Herausgabe des Geschenks. Ist schließlich vom Erblasser Testamentsvollstreckung angeordnet worden, kann der Pflichtteilsberechtigte die Ergänzung des Pflichtteils dennoch nicht vom Testamentsvollstrecker verlangen, sondern nach wie vor nur von dem / den Erben.

f) Ausschlussfrist: nach früherem Recht gab es für die Berücksichtigung von Schenkungen eine „Alles oder Nichts“-Lösung. Schenkungen ab 10 Jahren vor Eintritt des Erbfalls blieben unberücksichtigt, während alle Schenkungen, die innerhalb von 10 Jahren vor Erbfall stattfanden, voll berücksichtigt wurden, also zu 100 % der Pflichtteilsergänzung unterfielen.

Heute gilt eine „Pro Rata“-Lösung wie folgt: nach wie vor gilt die 10 Jahres-Grenze für die Ausklammerung älterer Schenkungen. Andererseits werden nur Schenkungen innerhalb des letzten Jahres vor dem Erbfall zu 100 % der Pflichtteilsergänzung zugeführt. Für jedes weitere vorangehende Jahr wird der Wertansatz um 10 % reduziert, d.h. von 100 % auf 90 %, dann 80 % usw., bis nach Ablauf von 10 Jahren 0 % erreicht ist.

Hier ist noch besonders zu beachten, dass dies bei Schenkungen des Erblassers an seinen Ehepartner nicht gilt. Vielmehr sind sämtliche Schenkungen während der Ehezeit im Pflichtteilsrecht ergänzungspflichtig - selbst solche, die älter sind als 10 Jahre vor dem Erbfall.


II. Pflichtteilsrestanspruch

a) Prinzip: bei diesem Anspruch ist der Berechtigte nicht enterbt worden. Vielmehr ist er selbst Erbe, dessen Erbteil infolge einer letztwilligen Verfügung des Erblassers jedoch unter dem Pflichtteil liegt - schematisch: zugewendeter Erbteil < Hälfte des Wertes des gesetzlichen Erbteils.

Man mag dies als Taktik eines trickreichen Erblassers ansehen, der einen gesetzlichen Erben zwar materiell-wirtschaftlich enterbt hat, doch ohne diesen formal-rechtlich zum Pflichtteilsberechtigten zu machen. Indes steht dem Erben, dessen Erbteil aufgrund letztwilliger Verfügung geringer ist als sein Pflichtteil bei Enterbung wäre, der Pflichtteilsrestanspruch zu: er kann von den Miterben den Wert des an der Hälfte fehlenden Teils verlangen (sog. Zusatzpflichtteil) - dies allerdings wie ein Pflichtteilsberechtigter als Geldforderung. Außerdem spielen folgende Konstellationen eine Rolle.

b) Beschränkungen und Beschwerungen: ein Erblasser, der einen gesetzlichen Erben möglichst „klein“ halten möchte, wird selten so „plump“ sein, dies direkt in eine letztwillige Verfügung zu schreiben, etwa wie „Mein einziges Kind Max erhält eine Erbquote von 5 %“.

Vielmehr wird der  reguläre Erbteil mit Beschränkungen und Beschwerungen „zugekleistert“ und so praktisch entwertet. In Betracht kommen

Beschränkungen durch

  • die Einsetzung eines Nacherben (beschränkter Erbe wird dann nur Vorerbe)
  • die Ernennung eines Testamentsvollstreckers
  • die Errichtung einer Teilungsanordnung.

Beschwerungen mit

  • einem Vermächtnis zu Gunsten eines Dritten, welches der beschwerte Erbe zu erfüllen hat
  • einer Auflage (Handlungsanweisung des Erblassers nur an den beschwerten Erben wie Tierpflege oder Gebäudeunterhaltung).

Der so benachteiligte Erbe kann darauf auf zwei Arten reagieren:

  • Annahme des Erbteils mit sämtlichen Beschränkungen und Beschwerungen
  • Ausschlagung der Erbschaft und (DENNOCH) Erhalt des Pflichtteils.


Zusammenfassung zu den beiden Ansprüchen:

Beim Pflichtteilsergänzungsanspruch ist ein gesetzlicher Erbe enterbt. Es findet eine Ergänzung des Pflichteilanspruchs mittels Hinzurechnung nicht mehr vorhandener Vermögenswerte (Schenkungen des Erblassers!) zum Nachlass statt. Man kommt so zu einem fiktiven Nachlass, aus dem der Pflichtteil berechnet wird.

Beim Pflichtteilsrestanspruch ist ein gesetzlicher Erbe nicht enterbt. Es findet vielmehr eine „Aufstockung“ des wertmäßig unter dem Pflichtteil liegenden Erbteils auf Pflichtteilshöhe statt.